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Die tapfere neue Welt

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Vor mehr als einem Jahr wurde uns das beflügelte Wort der „neuen Normalität“ untergejubelt. Die meisten von uns konnten und können sich recht wenig darunter vorstellen. Seit Mitte dieser Woche wagen wir einen großen Schritt in diese vermeintlich „neue Normalität“. Einen gewissen Vorgeschmack hatten wir ja vergangenen Sommer mit großzügigen Öffnungsschritten und noch großzügigeren Warnungen vor einer nächsten Infektionswelle. Doch nun stehen wir mit einem anderen Set-up vor der nächsten Öffnungswelle. Wir haben Impfstoffe und wir können uns impfen lassen - auf freiwilliger Basis. Diese Grundlage war vergangenen Sommer noch eine „Was-wäre-wenn-Rechnung“. 

 

Was aber ist nun wirklich diese „neue Normalität“ und was haben wir aus dieser weltweiten Pandemie gelernt? Mit Verlaub, die Pandemie ist nach wie vor da, nur haben es manche Länder und Staaten mit einer guten Gesundheitsinfrastruktur und viel Geld besser in der Hand als manch andere - sogenannte Schwellen- oder Drittweltländer (ja, dieser Begriff ist veraltet, aber trifft derzeit leider zu). Die „neue Normalität“ ist in unseren Breitengraden also die grenzfreie Shopping-, Reise- und Wirtschaftswelt. Sich endlich wieder den gut trainierten Körper an der Algarve-Küste bräunen lassen. Die Pasta in Italodenglisch in Mailand bei einem Kellner aus Albanien bestellen. Oder ganz einfach nur kurz in eine der zahlreichen Outlets düsen, um sich endlich der leidigen Home-Office-Jogginghose entledigen zu können. All das ist mit gewissen Auflagen, grünen oder gelben Pässen und mit einer guten Portion Selbstbewusstsein möglich, frei nach dem Motto „es kann ja nichts mehr passieren“. 

 

Völker anderer Länder kennen keine „neue Normalität“. Dort herrschen nach wie vor Armut, Krieg, Hunger und Leid. Die neue Normalität ist aber, dass wir nach wie vor auf dieses Leiden blicken und uns schnell als Experten und Meinungsmacher äußern, ohne die Hintergründe zu kennen oder ganz einfach helfen. Dazu abschließend noch ein paar Auszüge aus der Rede von Charlie Chaplin in seiner Paraderolle in „Der große Diktator“:

„Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt. Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher. Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.

Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein. Wir müssen es nur wieder zu leben lernen.

Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten und sie denken auch für uns.

Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen, und unser Wissen kalt und hart. Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig. Aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann erst die Maschinen. Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte. Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert.“

 

Ich selbst Blicke mit Zuversicht auf die neue, alte Freiheit. Ich blicke zugleich auch mit Wehmut auf vermeintlich falsche Werte. Tapfere neue Welt, lässt dich impfen, ob du aber viel dazu gelernt hast, bezweifle ich.

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