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Die postfaktische Gesellschaft

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Was für ein klobiger Begriff! Postfaktisch kennt man bisher aus der Politik. Wikipedia erklärt das so: „Als postfaktische Politik wird ein politisches Denken und Handeln bezeichnet, bei dem Fakten nicht im Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt dabei hinter den emotionalen Effekt der Aussage vor allem auf die eigene Interessengruppe zurück.“ Das ist insofern interessant, als wir derzeit auf sehr vielen Ebenen postfaktisches Verhalten vorfinden. Daher ist es an dieser Stelle nicht ganz falsch, ein gesamtes Gesellschaftssystem als postfaktisch zu bezeichnen. 

 

Ein Beispiel hat mir gezeigt, wie gefährlich emotional verpackte Nachrichten in kurzer Zeit soziale Netzwerke infiltrieren, ohne auf Fakten überprüft zu werden. Die digitalen Medien sind quasi das Lauffeuer der Verbreitung. Es ist das „Stille Post-Prinzip“ des 21. Jahrhunderts. Am Ende kommt eine Nachricht heraus, die rein nur auf der emotionalen Ebene ankommt. In der Politik ist das mittlerweile gang und gäbe. Und genau daher ist das Vertrauen in die Politik massiv geschädigt. Viele solcher emotionalen Nachrichten wurden im Nachhinein als falsch ausgewiesen. Nehmen wir nur Aussagen wie „Die Pandemie ist mit der Impfung vorbei!“ oder „Die Boosterimpfung ist ein Game-Changer!“. Beide Aussagen von Regierungsspitzen getätigt, sind rückblickend einfach nur falsch. 

 

Nennen wir das Beispiel vom Wochenende. In einem Radiobericht wurde über eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Tik-Tok-Videos berichtet, in denen angeblich betroffene Tourette-Patienten über ihre Tics berichten. In kürzester Zeit wurden diese Videos tausendfach geteilt. Zu sehen sind Menschen, die ihr „Leiden“ zur Schau stellen, hör- und sichtbar. Fakt ist aber - und darauf machen nun Psychologen und Psychotherapeuten aufmerksam -, dass es nur einen sehr kleinen Prozentsatz an Tourette-Patienten gibt, die ihre Tics über Schimpfwörter ausdrücken. Soll heißen, die plötzlich aufkommende Masse solcher Tik-Toc-Videos können nicht der Realität entsprechen. Experten warnen vor solchen „Zuschaustellungsvideos“. Weder klären sie über diese Krankheit auf, noch helfen sie, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren. Sie machen sich lediglich lustig darüber, über die Betroffenen wie über die Krankheit. 

 

Minderheiten, religiöse Gruppen oder politisch motivierte Menschen nutzen emotionale Bilder, um „Klicks“ zu generieren. Dabei wird in vielen Fällen etwas bei den Usern der sozialen Netzwerke ausgelöst, was sehr schnell in die falsche Richtung laufen kann, also deswegen absichtlich verbreitet. Umgekehrt kann es aber auch passieren, dass eben genannte Gruppen durch falsche Aussagen instrumentalisiert werden. Wer hier Täter und wer Opfer ist, ist oftmals unklar und nur schwer voneinander zu trennen. Aktuelles Beispiel ist der Fall einer angeblich religiösen Diskriminierung des Künstlers Gil Ofarim. 

 

Das digitale Zeitalter birgt leider auch die Gefahr, dass wir uns immer mehr zu einer postfaktischen Gesellschaft entwickeln. Und da wir zu jeder Minute Zugriff auf jede Meldung aus allen Ecken der Welt haben, ist es am Ende unsere Aufgabe als User solche Mitteilungen zwar nicht emotionslos, aber durchaus auf Fakten hin geprüft, zu bewerten, was im Informationszeitalter durchaus möglich ist. Es ist auch unsere Verantwortung, Kinder und Jugendliche auf die Gefahren solcher postfaktischen Nachrichten aufmerksam zu machen. Täglich! Medienerziehung ist nicht nur ein theoretisches, pädagogisches Konstrukt aus dem Bildungsministerium, sondern sollte auch verpflichtend zu Hause ein Punkt der Erziehung sein. Dafür müssten die Eltern oder Erziehungsberechtigten kompetent dafür sensibilisiert werden. In allen genannten Fällen haben wir gesellschaftlich noch viel Arbeit vor uns. Das ist Fakt.


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